Amulette und Blaue Augen
Magischer Schutz vor Bösem
Amulette schützen auf magischem Weg alles, was verletzlich und kostbar ist. Im islamischen Raum verbreitet sind vor allem blaue Augen-Perlen, die Hand der Fatima, Spiegelchen und verzierte Stoff-Dreiecke.
Ein Amulett soll einen Gegenstand, seinen Träger oder seine Besitzerin auf magischem Weg schützen: vor Hexen, Kobolden oder bösen Geistern, die in dunklen Wäldern, an Wegkreuzungen oder im Wasser hausen, und vor allem vor dem «bösen Blick». Es schützt alles, was verletzlich oder kostbar ist: kleine Kinder, Bräute, Schwangere und Gebärende, Jäger auf der Jagd, Häuser, Tiere oder Autos. Der Schutz geht aus von Gott, Allah, den Ahnen oder guten Geistern. Amulette gibt es fast überall auf der Welt, auch wenn sie sich in Material und Form unterscheiden. In Europa üblich sind rote Fäden und Kruzifixe, in Amerika Webmuster und Vögel und in Fernost beschriebenes Papier. In der islamischen Welt am häufigsten verwendet werden mit Koranversen beschriebene Papierchen in dreieckigen Umhüllungen, die Hand der Fatima, blaue Perlen und Spiegel.
Der «böse Blick»
Der «böse Blick» (in der Türkei «nazar», in Brasilien «mau olhado», in Italien «Jettatura», in Griechenland «kako mati») ist einer der am weitesten verbreiteten Aberglauben. Vor ihm fürchtet man sich vielerorts, ganz besonders auch im Mittelmeerraum und im Nahen Osten. Er wird von gewissen Menschen oder Geistern ausgesendet, ensteht aus Neid, Eifersucht und Missgunst und bedroht alles, was schön, neu oder aussergewöhnlich ist. Das Auge selbst, ganz besonders blaue Augen in einem Land braunäugiger Menschen, ist dabei nur ein Aspekt der Bedrohung.
Ein anderer ist die lobende Äusserung, die begeisterten Bemerkungen eines Bewunderers, die die Aufmerksamkeit des Auges erregen und den süssen Säugling und die liebreizende Braut in Gefahr bringen. «Insallah nazar degmesin» («möge, so Allah will, der böse Blick es nicht berühren») sagt man deshalb in der Türkei beschwörend, wenn man Neugeborene, schnuckelige Kinder, Neuerwerbungen u.ä. betrachtet. Und man achtet darauf, dass Selbstgeschaffenes (z.B. Stickereien, Teppiche, Kelims u.ä.) irgendwo einen Fehler oder eine unvollendete Stelle aufweisen, um nicht durch Perfektheit und Vollkommenheit (die sowieso nur Allah zustehen) den «nazar» auf sich und den Gegenstand zu ziehen.
Verwirren und abwehren
Der böse Blick ist seit dem vierten oder dritten Jahrtausend vor Christus bekannt und wird schon auf sumerischen Keilschrifttafeln erwähnt. Er wird mit Schnurknäueln abgelenkt, mit besonderen Stickereimustern in die Irre geleitet, mit Glöckchen und Rasseln gestört, mit Rautensamen, Weihrauch oder anderem Räucherwerk vertrieben. Dreieckige, reichverzierte Stoffamulette, welche die Dreifaltigkeit von Himmel, Erde und Unterwelt symbolisieren, sollen Menschen und ihre Habe ebenso schützen wie besondere Koranverse (113. und 114. Sure) oder die Hand der Prophetentochter Fatima, deren Finger den bösen Blick durchbohren können. Die stärksten Amulette gegen den bösen Blick aber konfrontieren Gleiches mit Gleichem, sollen als Gegenzauber den Blick bannen und abwenden. Es sind dies Darstellungen des Auges selbst – oftmals durch eine blaue Perle symbolisiert – und der Spiegel, vor dem der böse Blick entsetzt flieht – oder in dem er sich selbstvergessen bewundert.
Blaue Perlen und Spiegelchen
In der ganzen türkischen Welt, von Zentralasien bis zum Nahen Osten und zum Mittelmeerraum, starren blaue Augenperlen aller Art auf den unsichtbaren bösen Blick zurück, hängen in Form grosser Amulette über Türen und Zelten, werden Babys an die Kleider gesteckt und den Nutztieren ans Zaumzeug, baumeln an Schlüsselanhängern, Halsketten und Autorückspiegeln. In Istanbul gibt es Strassenstände, die nichts anderes verkaufen. Nützen sollen alle: goldgefasste blaue Halbedelsteinperlen vom Juwelier ebenso wie blaue Knöpfe oder in den Türpfosten gedrückte Reissnägel mit blauem Kopf. Geht ein solches Auge mal kaputt, so hat es offensichtlich seinen Dienst getan und den bösen Blick abgewendet – und wird schnell durch ein neues ersetzt.
Wenn schon das dem bösen Blick entgegengewendete Auge als so überaus wirksam gilt, wie viel mehr muss dies dann für die Widerspiegelung des bösen Blicks selbst gelten? Spiegel haben etwas Geheimnisvolles: Sie zeigen das wahre Bild des Menschen wie des Dämonen, und doch kehren sie es um. Spiegelungen können Böses vertreiben, sie können aber auch als Ablenkung dienen. Wenn Auge oder Dämon nicht fliehen, verharren sie vielleicht in Bewunderung ihres eigenen Bildnisses, womit ihre Aufmerksamkeit von dem Objekt – der Braut, dem Kind, dem Gebäude oder dem Tier – abgelenkt wird, das ursprünglich ihre Begehrlichkeit weckte. Deshalb werden Spiegelscherben in Kleidungsstücke, in Häuserfassaden oder Amulette eingearbeitet.